Jürgen Dankert: Meine Meinung zum Thema ...

G8 oder G9?

Das Problem

Die in Deutschland seit einigen Jahren unter dem Stichwort "G8 oder G9?" leidenschaftlich geführte Diskussion über die Anzahl der Schuljahre bis zum Abitur (12 oder 13 Jahre) wird leider mit Argumenten geführt, die größtenteils am eigentlichen Problem vorbeigehen. Wenn man dem Schreiber dieser Zeilen die Frage "G8 oder G9?" stellt, antwortet er gern provokant: "Am besten G7." Diese Antwort führt immer zu einem der Lieblingsargumente der Verfechter der längeren Schulzeit: "Es geht doch in erster Linie um die Persönlichkeitsentwicklung der jungen Menschen, und die braucht einfach Zeit."

Persönlichkeitsentwicklung

Ja, Persönlichkeitsentwicklung braucht tatsächlich Zeit, absolut nicht erforderlich dafür ist ein Gymnasium. Kontakte und Erfahrungen mit möglichst vielen unterschiedlichen Menschen, Situationen, Konflikte (auch kritische) und Probleme erfahren und gemeistert zu haben (auch daran gescheitert zu sein), andere Kulturen kennen lernen, mit der Arbeitswelt zumindest Kontakt gehabt zu haben, sind für die Persönlichkeitsbildung viel wertvoller als ein Jahr mehr auf dem Gymnasium unter Schülern und Lehrern, deren Lebenserfahrungen sich in der Regel auch nur auf Schule und Hochschule beschränken. Einfaches Beispiel: Acht Jahre Gymnasium und ein freiwilliges soziales Jahr (G8 + FSJ) sind sicher viel mehr wert als G9.

Ganz besonders wichtig für die Persönlichkeitsentwicklung ist, dass man über sich selbst nachdenkt, über den Platz, den man in dieser Welt einmal einnehmen möchte und was zu tun ist, um dort hinzukommen. Und je früher man damit anfängt, um so eher werden auch Fehler verziehen (bzw. können korrigiert werden), und Illusionen können durch realistische Vorstellungen ersetzt werden. "Gymnasium, dann muss man sich nicht so früh entscheiden, nach dem Abitur sehen wir dann weiter", ist eine Einstellung, die so verbreitet wie falsch ist.

Die Menge des Lehrstoffs

Und die Menge an Wissen, die bis zum Abitur vermittelt wird, ist dafür nicht eine Mindestmenge an Zeit erforderlich? Nein! Die Stoffmenge muss an die verfügbare Zeit angepasst werden. Und dabei sollte beachtet werden, dass die Bedeutung von "Wissen" gegenüber dem "Können" deutlich zurückgegangen ist. Es ist heute viel wichtiger, mit dem verfügbaren Wissen etwas anfangen zu können (Zusammenhänge herstellen, Schlussfolgerungen ziehen, Kausalketten erkennen und bewerten, …), im Faktenwissen ist man dem eigenen Smartphone ohnehin deutlich unterlegen. Trainiert werden müssen die Fähigkeiten, mit denen das menschliche Gehirn dem Internet überlegen ist.

Es ist ein Skandal, dass mit der Einführung des Abiturs mit 12 Jahren Schulzeit die Lehrpläne nicht entsprechend angepasst und dabei gleich modernisiert wurden. Es bleibt der Verdacht, dass man damit die Verkürzung konterkarieren wollte. Mit überforderten Schülern zog man große Teile der Elternschaft auf die "G9-Seite", die Lehrer-Gewerkschaft (GEW) war ohnehin für diese Variante, und so blieb der wichtigste Nebeneffekt der Verkürzung der Schulzeit, die "Entrümpelung der Lehrpläne", auf der Strecke.

Unverzichtbar: Basiswissen

Basiswissen muss natürlich verfügbar sein, aber genau da lag bereits beim G9-Abitur ein wesentliches Problem. Natürlich wird in den Schulfächern das Basiswissen gelehrt, leider aber durch eine Unmenge an nachfolgendem Lehrstoff häufig zugeschüttet. Man kann sich ja im Internet einen Überblick über die Lehrpläne der Gymnasien, Abiturthemen und -aufgaben verschaffen. An Quantität fehlt es wahrlich nicht.

Der Schreiber dieser Zeilen hat über viele Jahre Erstsemester-Studenten, die frisch vom Gymnasium kamen (seinerzeit ausschließlich G9-Abiturienten), auf ihre "Studiertauglichkeit" getestet: 35 bis 40% (stabil über die Jahre) scheiterten an einer einfachen Mathematik-Aufgabe, weil sie die Regel "Punktrechnung geht vor Strichrechnung" vergessen hatten (und auf die Frage, warum wohl diese Regel gelten muss, gab es niemals eine richtige Antwort). Einfache Diagramme zu interpretieren, hat einen noch größeren Anteil überfordert. Abenteuerliche Antworten gab es zum Beispiel auf die Frage, warum der Mond trotz der Massenanziehung nicht auf die Erde fällt oder wo die Vor- und Nachteile eines föderativen Systems liegen, und Konrad Adenauer und Walter Ulbricht den richtigen Teilen Deutschlands zuzuordnen, war wirklich ein echtes Problem. Das ist ja zweifelsfrei alles gelehrt worden, aber untergegangen in der Menge des Lehrstoffs. Weniger wäre tatsächlich mehr!

"Das haben wir bestimmt mal behandelt," wurde immer wieder ehrlich bemerkt, "dann kam eine Klausur und danach viel neuer Stoff, und der wurde dann ja auch wieder in einer Klausur abgefragt."

Bildung und Ausbildung

In den Diskussionen über die PISA-Tests wird von den Geisteswissenschaftlern stets bemängelt, dass gar nicht die Fähigkeiten getestet werden, die im Bildungsauftrag der Verfassung vorgegeben sind. Mathematik-Kenntnisse gehörten zur "Ausbildung", und das sei ja etwas ganz anderes als "Bildung". Eine sehr billige (und falsche!) Argumentation. Mit den Mathematik-Aufgaben (das gilt in besonderem Maße auch für die "Leseverständnis"-Tests) wird ja gerade nicht "gelerntes Wissen" abgefragt. Die PISA-Mathematik-Aufgaben verlangen eine Analyse des Problems, die Umsetzung in die Sprache der Mathematik und die Lösung des mathematischen Problems.

PISA ist ein Vergleichstest, der (international) Leistungen vergleichen soll. Ein solcher Test muss sich zwangsläufig auf das beschränken, was in verschiedenen Ländern (oder gar Kulturkreisen) mit ähnlichen Inhalten gelehrt wird (Geschichte oder Literatur zum Beispiel sind sicher in Shanghai mit ganz anderen Themen verknüpft als in Berlin). Den Geisteswissenschaftlern, die die Inhalte der PISA-Tests kritisieren, kann ich meine Erfahrung mitteilen, dass genau die Schüler mit eklatanten Schwächen in der Mathematik oder beim Leseverständnis auch erhebliche Defizite in den anderen Gebieten hatten.

Gibt es Hoffnung?

Kaum, denn das eigentliche Problem besteht darin, dass jeder Vertreter eines Fachs gerade dieses für so wichtig hält, dass eher mehr gelehrt werden müsste. Entrümpelt werden sollte - wenn überhaupt - bestenfalls bei den anderen, und die große Chance zur Anpassung der Lehrpläne bei der Umstellung von G9 auf G8 ist erst einmal verpasst.

Im Januar 2015 löste eine Schülerin geradezu einen Shitstorm aus, als sie in einem Tweet beklagte, dass sie am Gymnasium kaum auf das Leben vorbereitet wird ("ich weiß nichts über Mietverträge, Steuern und Versicherungen, ..."), aber "Gedichtsanalysen in vier Sprachen verfassen kann". Wenn man die üblichen Beschimpfungen bei den Diskussionen in den Medien ausklammert, blieben nur wenige konstruktive Ideen übrig. Von einigen Bildungspolitikern wurde eingeräumt, dass man wohl doch auch mehr "lebensnahes Wissen" vermitteln sollte, man hatte sogar Vorstellungen, wie so ein neues Fach heißen könnte. Das ist genau das, was nicht benötigt wird, aber Ideen für zusätzliche Fächer und zusätzliche Inhalte sind eigentlich alles, was in der Regel bei Reformen herauskommt.

Der sicher richtige Hinweis, der von vielen kam, dass man sich ja im Internet über die lebenswichtigen Dinge informieren kann, führte merkwürdigerweise nicht zu der Schlussfolgerung, dass man sein Wissen in vielen Schulfächern (Geschichte, Erdkunde, Biologie, ...) genau aus dieser Quelle beliebig vertiefen kann, so dass das Gymnasium sich darauf beschränken kann, das erforderliche Basiswissen so zu vermitteln, dass es jederzeit abrufbar ist.

Die Politiker sind nicht hilfreich, im Gegenteil

Das Schlimmste aber praktizieren die Bundesländer, die nach Umstellung zu G8 nun zurück zu G9 gehen bzw. gehen wollen. Ganz abgesehen davon, dass Umstellungen immer mit Unruhe, Unsicherheit und Unklarheit verbunden sind und zwei Umstellungen innerhalb weniger Jahre eigentlich absolut unmöglich sein sollten (aber was kümmert das populistische Politiker), wäre dann das letzte Argument für die Entrümpelung der Lehrpläne vom Tisch: Jetzt haben wir ja wieder Zeit.

Und um zu verdeutlichen, wie wichtig dem Autor dieses Textes dieses Anliegen ist, soll es abschließend noch einmal drastisch formuliert werden: Beim Lesen der Lehrpläne drängt sich ihm immer wieder die Vokabel "Kindesmisshandlung" auf. Und wenn dann (wie heute mit G8 oder G9) so wenig Persönlichkeit und so wenig Studierfähigkeit entstehen, ist das einfach eine Katastrophe.

Den allgemeingültigen Rat gibt es nicht, ...

... denn die jungen Menschen, denen man einen Rat geben wollte, sind so unterschiedlich, dass wirklich nur individuell geraten werden kann. "Was willst Du denn mal werden?", war früher eine beliebte Frage an Kinder, die heute schon deshalb kaum noch gestellt wird, weil die Antworten immer ähnlich sind: "Mal sehen, weiß ich noch nicht." Selbst wenn die Antworten heute "Schlagersängerin" oder "Fußball-Profi" lauten würden, wäre das wenigstens ein Indiz dafür, dass man über die Frage schon einmal nachgedacht hat. Eltern sollten ihre Kinder möglichst früh (und dann immer wieder) in eine solche Diskussion verwickeln.

Man kann auf dem Weg über das Gymnasium und ein Hochschulstudium durchaus auch in Berufen landen, in denen man alles andere als glücklich wird. Und es gibt viele sehr schöne nicht-akademische Berufe. Kinder, bei denen man nicht sehr sicher ist, dass sie die Anforderungen an einem Gymnasium relativ leicht bewältigen, sollten diesen Weg vermeiden. Der Weg zu einem Studium ist damit immer noch offen, Studierberechtigung ist auf vielen Wegen zu erlangen, auf denen häufig die Persönlichkeitsentwicklung viel besser gelingt als auf dem Gymnasium.

Wenn es aber unbedingt das Gymnasium sein soll, dann ist ein Jahr weniger (G8) in jedem Fall die bessere Wahl.