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Blohm und Voß und Gates und Klumpp Liebe Absolventen des Examens-Jahrgangs 1950, liebe Absolventen
des Jahrgangs 2000, sehr verehrte Gäste, liebe Angehörige des Fachbereichs,die Hauptpersonen der heutigen Veranstaltung, die Diplom-Ingenieure des Millenium-Jahrgangs, werden es mir sicher verzeihen, daß ich
diejenigen, die hier in diesem Hause an unserer Vorgänger-Einrichtung, der Ingenieurschule am Berliner Tor, vor 50 Jahren erfolgreich ihr Studium abgeschlossen haben, zuerst genannt habe. Es ist für uns eine
besondere Ehre, Sie, die man wohl mit Fug und Recht als die Ingenieure der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bezeichnen darf, in unserer Mitte zu wissen. Es ist mittlerweile zu einer guten Tradition geworden, dass zur
Verabschiedung eines aktuellen Absolventen-Jahrgangs auch Vertreter eines Jubiläumsjahrgangs anwesend sind, die dann auch immer mal wieder in "Nicht-Jubiläumsjahren" unsere Gäste sind, und ich begrüße
heute ganz herzlich Herrn Möhlenbrock aus dem Examens-Jahrgang 1948. Heute widerstehe ich tapfer der Versuchung, der ich sonst meist nachgegeben habe, mit Absolventen unter einem Dach, deren
Examen 50 Jahre auseinander liegt, einen Bogen über genau diese Zeit zu spannen, denn ich muss natürlich an meine Kollegen
denken, die sich diese Ansprache von mir im Halbjahres-Rhythmus anhören, von denen ich mir nicht nachsagen lassen möchte, dass
ich ständig das Gleiche erzähle. Das Widerstehen dieser Versuchung fällt mir etwas schwerer als die Einhaltung des Versprechens,
bei den Worten, die ich Ihnen, liebe Absolventen des Jahres 2000 mit auf den Weg geben will, nicht den belehrenden Zeigefinger zu heben.
Und weil es für uns alle transparent und damit immer gegenwärtig ist, mit welchem dramatischen Tempo sich die Technik entwickelt
und sich damit die Arbeitswelt des Ingenieurs verändert, will ich heute einmal einige Gedanken zur Veränderung des wirtschaftlichen
Aspekts und einer wohl dringend notwendigen neuen Qualität im Umgang mit der geradezu explodierenden Informationsmenge, die
heute jedermann zugänglich ist, äußern. Beides verändert die Stellung des Ingenieurs - so meine ich - ganz erheblich.
Zunächst einige Bemerkungen zur Veränderung des wirtschaftlichen Umfelds, die ich an einem Beispiel transparent machen möchte.
Wenn vor - sagen wir z. B. acht Jahrzehnten - Herr Blohm und Herr Voß am arbeitsfreien Sonntag die Anlagen der Werft, die ihren
Namen trägt, inspizierten, dann sahen sie auf dem damals größten Werftgelände der Welt und einer der größten Firmen der Welt
überhaupt alles das - na, sagen wir "fast alles" -, was den Wert ihrer Firma ausmachte. Es wurde zwar nicht gearbeitet, aber das,
was man den "Shareholder value" der Firma nennt, das riesige Grundstück, die Docks, die Krananlagen, das mächtige Materiallager, halbfertige Schiffe, waren zu sehen.
Wenn Bill Gates sonntags durch seine Superfirma Microsoft in Redmond geht, sieht er vom riesigen Shareholder value seiner Firma
so gut wie nichts, denn die Werte, die die Firma Microsoft wertvoll machen, erholen sich sonntags im schönen Tacoma, bummeln
über den Fischmarkt in Seattle oder machen einen Ausflug nach British Columbia im nahen Kanada. Und von den Computern, die
am Sonntag unbenutzt bei Microsoft herumstehen, weiß Bill Gates, dass sie sicher natürlich nicht so wertvoll sind wie jene, die in den
Kinderzimmern bei seinen Mitarbeitern zu Hause stehen, denn für die Softwareentwicklung braucht man nicht annähernd die
Prozessor- und schon gar nicht die Graphikleistung wie für die Moorhuhnjagd oder das Internetsurfen. Und auch das firmeninterne
Netz hat aus Sicherheitsgründen viel mehr Restriktionen als das World Wide Web, an das die Kinderzimmer ohne Firewall,
bestenfalls mit einer installierten Net-Nanny, angeschlossen sind. Das gesamte Anlagevermögen von Microsoft geht als Peanuts in die
Jahresbilanz ein, die Firma hat im Lager weder nennenswerte Zuliefererteile noch irgendwelche Rohstoffe, auch das
Auslieferungslager ist möglicherweise gar nicht existent, weil "Production and Shipment" zu einem Prozess verschmolzen sind. Fast
der gesamte Shareholder value der Firma Microsoft hat sonntags frei, und Bill Gates kann nur hoffen, dass er montags wieder zur Arbeit erscheint.
Wenn Herr Klumpp, Geschäftsführer der Firma Ixion aus Hamburg und Mitbegründer unseres Freundeskreises, den ich hiermit
herzlich begrüße, sonntags durch seine Firma geht, dann kann er sich durchaus der Illusion hingeben, die die Herren Blohm und Voß
noch als Realität sahen. Aber Herr Klumpp ist natürlich viel zu klug, um so leichtfertig zu sein. Trotz der enormen Werte, die in den
modernen Fertigungsanlagen stecken, weiß Herr Klumpp, dass die wesentlichen Werte auch aus seiner Firma sonntags segeln, die
Schwiegereltern besuchen, die Steuererklärung anfertigen oder sich anderen ähnlich angenehmen Tätigkeiten widmen. Blohm und
Voß vor mehreren Jahrzehnten und Microsoft heute mögen zwei extreme Beispiele für meine Aussage sein, aber der Trend ist
eindeutig, und ganz bestimmt muss ich eine Aussage über die Firma Ixion heute viel näher bei meinem Microsoft- als bei meinem Blohm-und-Voß-Beispiel ansiedeln.
Der Wert einer Firma wird immer mehr durch seine Mitarbeiter repräsentiert, und zwar - auch, wenn das sozial hart klingen mag -
durch die nicht beliebig austauschbaren. Warum sage ich dies Ihnen, liebe Absolventen? Weil Sie entweder schon oder aber sehr
bald zum wichtigsten Kapital einer Firma gehören, weil Sie durch ihre Ausbildung und die Erfahrungen, die sie erwerben, zum nicht
ohne weiteres austauschbaren Wert einer Firma gehören werden. Dies ist sicher ein sehr angenehmes Gefühl, es gibt aber auch die
andere Seite der Medaille: Der Ingenieur, der nicht mehr wie Sie heute auf dem Ausbildungsstand ist, der diesen Wert für eine Firma
erst ausmacht, wird eher zu einer Belastung. Das Kapital, das Sie mit Ihrer Ausbildung in eine Firma einbringen, ist einer gewaltigen Inflationsrate unterworfen.
Bitte sehen Sie in dieser Aussage nicht in erster Linie die Gefahr, die natürlich auch darin steckt, sondern die Chance, immer wieder
neues Wissenskapital zu generieren, denn Sie haben in Ihrem Studium vor allen Dingen "lernen gelernt". Und den Zwang, der für den
Ingenieur nicht wegzuleugnen ist, immer und ständig - und noch dazu auf vielen verschiedenen Gebieten - "uptodate" bleiben zu müssen, habe ich ganz persönlich sogar immer als angenehm empfunden.
Und warum soll es Ihnen eigentlich besser gehen als den Absolventen des Jahres 1950 oder mir, der ich neulich einmal resümmiert
habe, was ich von dem, was ich im Studium gelernt habe, heute noch gebrauchen kann. Geblieben sind zwei Blöcke: Die Kenntnisse
aus dem Grundstudium und die im Hauptstudium trainierten Fähigkeiten, Strategien und Methoden zur Problemanalyse und zur
Problemlösung. und das Sicherheit gebende Gefühl, dass mich eigentlich nichts mehr schrecken konnte, weil ich von den Maschinen
und den Problemen, die Gegenstand meiner Studien- und Diplomarbeiten waren, während des Studiums auch nichts erfahren hatte.
Und mit jedem neuen Problem, das man erfolgreich löst, wächst das Selbstbewusstsein. Das im Hauptstudium erlangte Fachwissen
dagegen, die Mess- und Analyseverfahren aus den Laborpraktika, die Berechnungsverfahren, die Technik und Methodik des
Konstruierens, an all dies erinnere ich mich nur noch schemenhaft, und was mir erinnerlich geblieben ist, ruft heute eher ein Lächeln
hervor. So erging es Generationen von Ingenieuren, so wird es Ihnen, liebe Absolventen, ergehen, ich bin aber ganz sicher, dass die
gegenwärtige Informationsexplosion eine zusätzliche Eigenschaft von Ihnen erfordern wird, für die es noch gar keinen Namen gibt.
Der Hamburger Journalist Reinhard Kahl hat es in einer interessanten Betrachtung am Beispiel beschrieben. Er hatte sich mit Soft-
und Hardware und allem, was es an Peripheriegeräten gibt, neu ausgestattet, es funktionierte natürlich zunächst nichts, und er
beobachtete die beiden Studenten, die er angeheuert hatte, um die Probleme zu beheben, um dabei festzustellen, dass diese in die
gleichen Fallen wie er tappten, eigentlich nichts von dem wussten oder konnten, was er auch nicht wusste und konnte, sich von ihm
allerdings durch einen grenzenlosen Optimismus unterschieden, dass man das alles doch irgendwie schon meistern würde.
"Sie surften auf dem Meer des Nichtwissens", formulierte Reinhard Kahl, "aber das machte ihnen keine Angst, denn ihr Meer ist
voller, wenn auch ganz kleiner, Wissensinseln. Sie entdeckten laufend Neuland, zunächst in Helpfiles und Readme-Dateien, fanden
auf der CD-ROM Treiber, deren Name so klang, als ob man sie gebrauchen konnte, und als schließlich der Internetanschluss
hergestellt war und damit der Kontakt zur unermesslichen Schar der weltweit surfenden Nichtwisser hergestellt war, wussten sie,
dass sie auch bei dieser Reise irgendwann an all den kleinen Wissensinseln vorbeifahren würden, die man für die aktuellen Probleme besuchen muss."
Nein, diese Surfer auf dem Meer des Nichtwissens verachten festen Boden unter den Füßen nicht. Aber sie wissen, dass in diesem
Meer des Nichtwissen alles Land nur aus kleinen Inseln besteht, und dass das alte holländische Modell der Landnahme mit
sofortigem Deichbau hier nicht funktioniert. Die schöne Vorstellung vom festen Boden des fundierten Wissens bleibt eine Fiktion.
Wir alle sind ständig auf der Reise, wir sind - um im Bild zu bleiben - auf See, diese ist niemals risikofrei, aber auch nicht so gefährlich, wie viele befürchten.
Und heute, da Sie, liebe Absolventen, nach Schule und Hochschule die staatlich verordnete bzw. angebotene Bildungsreise zunächst
beenden, darf ich Ihnen die Wahrheit zumuten: Unser gesamtes Bildungssystem funktioniert nach wie vor nach dem Holländer
Modell, ich sage das durchaus auch im positiven Sinn: Ständige Landgewinnung - Aufnehmen neuen Wissens in das Curriculum zum
Beispiel - ist allerdings genauso zu finden wie der Deichbau. Und ganz sicher haben Sie in Ihrem Studium den auf dem Meer des
Nichtwissens mit Ihnen gemeinsam surfenden Professor kaum erlebt, Sie hätten ihn auch kaum akzeptiert, denn Sie erwarten
natürlich, dass Ihre Lehrer das alles wissen, was sie Ihnen vermitteln wollen. Dies ist ein Anspruch, den zum Beispiel ein Professor
für Informatik überhaupt nicht mehr erfüllen kann. Ich habe dies häufig getestet, und bin erstaunlich gut damit gefahren. Ich habe - zur
Überraschung, manchmal auch zum Entsetzen der Studenten - es gewagt, in den Computerpraktika auf die Frage: "Was muss ich
denn da jetzt hier eingeben, anklicken usw.?" zu antworten: "Weiß ich auch nicht, aber wenn Sie es herausgefunden haben, erklären
Sie es mir." Und ich habe lernen müssen, dass die Angehörigen Ihrer Generation auf dem Meer des Nichtwissens viel geschickter surfen als wir alten Holländer.
Und weil ich diese Eigenschaft nicht nur für den Ingenieur, sondern für den Bewohner der modernen Welt für so besonders wichtig
halte, möchte ich Sie dringend bitten, Reisende zu bleiben, immer mal auf einer Wissensinsel pausieren, aber bitte keine Dämme bauen.
Liebe Absolventen, wir entlassen Sie auf einen Arbeitsmarkt, der Ihnen extrem gute Chancen bietet und der uns hier im Hause
zunehmende Sorgen beschert, weil wir ihn heute schon nicht mehr ausreichend bedienen können, obwohl unsere Absolventenzahlen
noch nicht annähernd so dramatisch zurückgehen wie die Studentenzahlen. Während wir im Jahr 1998/99 - wir fassen in der Statistik
immer ein Winter- und ein Sommersemester zusammen - noch mit 250 Absolventen (bei einer jährlichen Aufnahmekapazität von 300
Studienanfängern) einen normalen Wert melden konnten, waren es im Wintersemester 1999 und Sommersemester 2000, dem
Zeitraum, in den Ihr Examen fiel, noch 220. Und wenn ich meine Hochrechnung optimistisch interpretiere, dann werden ich im
November 2001 noch die Zahl 160 nennen können, im November 2002 wird es meinem Nachfolger vorbehalten sein, eine noch wesentlich kleinere Zahl nennen zu müssen.
Gestatten Sie noch einige statistische Werte zu dem aktuellen Absolventenjahrgang, die sich allerdings in den letzten Jahren kaum
erkennbar geändert haben. Der mittlere Absolvent des letzten Jahres feierte 6 Wochen nach dem Datum, das auf seiner
Diplomurkunde steht, seinen 30. Geburtstag. Dass unsere Absolventen damit zu alt sind, ist unbestritten, liegt aber nicht in erster
Linie an zu langen Studienzeiten, sondern daran, dass der mittlere Studienanfänger noch im ersten Semester seinen 25. Geburtstag
feiert. Die mittlere Studiendauer beträgt damit etwas weniger als 11 Semester, bei einer Regelstudienzeit von 8 Semestern ein für
deutsche Verhältnisse sehr guter Wert, leider, muss man wohl sagen. Die jüngsten Absolventen dieses Jahrgangs waren am Tag ihrer
Diplomierung 24 Jahre, unter den jüngsten Absolventen übrigens auffällig viele mit besonders guten Abschlussnoten und prozentual
viel mehr Frauen als unter der Gesamtzahl der Studenten bzw. Absolventen. Frauen studieren nach wie vor in nur sehr geringer Zahl an unserem Fachbereich, wenn sie es aber tun, dann schneller und erfolgreicher.
Liebe Absolventen, wir haben Sie auf Ihr Berufsleben gut vorbereitet, da sind wir ganz sicher. Gehen Sie es optimistisch und
selbstbewusst an. Selbstbewusst auch deshalb, weil Sie gerade vom Kostgänger des Steuerzahlers zu seinem Partner werden. Wenn
ich den Gesamtbetrag, der alle Kosten, die dieser Fachbereich verursacht (einschließlich der Pensionslasten für die Professoren im
Ruhestand, die sicher auch deshalb so gern zu dieser Veranstaltung kommen, um diejenigen noch einmal zu sehen, die ab sofort ihre
Pensionen sichern werden), wenn ich also alle Kosten, die unser Fachbereich in einem Jahr verursacht, durch die Anzahl der
Produkte (sprich: Absolventen) teile, komme ich auf eine Zahl von etwa 90.000 DM, die für einen Absolventen zu veranschlagen ist.
Sie, liebe Absolventen, werden erstaunt sein, wie schnell das Finanzamt einen Betrag dieser Größenordnung bei Ihnen wieder eintreibt.
Und weil ich gerade beim Stichwort Finanzamt bin: Diese Feier wird ausgerichtet vom Freundeskreis Maschinenbau und Produktion,
der auch das jährliche Absolvententreffen im Februar sponsert. Dazu werden Sie in jedem Fall eingeladen, auch wenn Sie nicht
Mitglied des Freundeskreises sind. Ich würde es allerdings für eine prächtige Idee halten, wenn Sie einen der mit dem schlichten
Wort "Beitrittserklärung" überschriebenen Zettel, die hier im Raum überall wie zufällig herumliegen, ausfüllen würden, denn der
ohnehin geringe Beitrag ist steuerlich absetzbar, und das ist bei den guten Aussichten für Ihre Gehaltsentwicklung in den nächsten Jahren eine ideale Möglichkeit, Ihre immense Steuerlast zu reduzieren.
Aber unabhängig davon, ob Sie das tun, wünsche ich Ihnen im Namen aller Angehörigen des Fachbereichs für Ihren Berufsweg und im privaten Bereich ablles erdenklich Gute. Viel Erfolg! |
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